„Geh raus aus deiner Opferrolle“ – warum dieser Satz für viele Betroffene mehr verletzt als hilft
„Geh raus aus deiner Opferrolle.“
Ein Satz, der auf Social Media, in Ratgebern oder Seminaren immer wieder fällt.
Er klingt nach Klarheit, Eigenverantwortung und Stärke.
Und doch ist er für viele Menschen, die mit den Folgen von Trauma oder psychischer Belastung leben, wie ein Schlag ins Gesicht.
Als ich selbst noch mitten in der Verarbeitung meiner Vergangenheit steckte – mit Ängsten, Erschöpfung, Depression und dem Gefühl, kaum noch Halt zu haben – machte mich dieser Satz wütend. Ich hätte denjenigen, die so etwas sagten, am liebsten entgegnet:
„Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich war Opfer von Umständen, das ich nicht kontrollieren konnte. Wenn ich einfach aussteigen könnte – glaub mir, ich hätte es längst getan.“
Damals verstand ich noch nicht, warum mich dieser Begriff so stark traf. Erst viel später, als ich begann, mich intensiver mit Schattenarbeit und Selbstreflexion zu beschäftigen, wurde mir klar, dass es nicht nur um den Satz ging, sondern um das, was er in mir berührte: Scham, Hilflosigkeit, das Gefühl, schon wieder nicht verstanden zu werden.
Wenn der Begriff Opferrolle beschämt statt befreit
„Opferrolle“ ist ein Begriff, der oft als Vorwurf verwendet wird. Er suggeriert, jemand wolle in seiner Ohnmacht bleiben, statt Verantwortung zu übernehmen. Für Menschen, die tatsächlich Opfer waren, ist das fatal.
Denn wer Gewalt, Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung erlebt hat, war nicht in einer Rolle – er oder sie war in einer Realität, die das gesamte innere Erleben geprägt hat: Denken, Fühlen, Körperempfinden, Beziehungen, Selbstbild.
Das ist kein Zustand, den man einfach abstreifen kann.
Er ist das Ergebnis eines Nervensystems, das sich über Jahre an Bedrohung angepasst hat. Das Gehirn bleibt auf Gefahr eingestellt, der Körper auf Anspannung, die Psyche auf Kontrolle. Und bevor ein Mensch sich als selbstwirksam erleben kann, braucht er zunächst das Gefühl von Sicherheit.
Wenn dann jemand sagt „geh raus aus deiner Opferrolle“, hört das verletzte System nur eines: Du bist selbst schuld, dass es dir so geht. Und das erzeugt nicht Selbstwirksamkeit, sondern Scham. Scham lähmt. Sie trennt uns von unserem Mitgefühl – und macht den Weg zur Veränderung nur schwerer.
Warum der Satz trotzdem so beliebt ist
Dass dieser Satz so häufig verwendet wird, sagt auch etwas über unsere Kultur. Wir leben in einer Gesellschaft, die Leistung, Selbstoptimierung und Unabhängigkeit glorifiziert. Schwäche, Bedürftigkeit oder Trauer haben darin wenig Platz.
Verletzlichkeit wird oft mit Passivität verwechselt.
Das führt dazu, dass Menschen, die sichtbar leiden, schnell als „jammernd“ oder „in ihrer Opferrolle gefangen“ etikettiert werden.
Diese Haltung ist nicht böse gemeint – sie spiegelt aber eine tief verankerte kollektive Angst wider: die Angst vor Ohnmacht.
Wenn wir anderen Menschen Ohnmacht zugestehen, werden wir an unsere eigene erinnert. Deshalb ist es einfacher zu sagen: „Geh da raus“ – statt still daneben zu sitzen und das Leid wirklich auszuhalten.
Vom Opfersein zur Selbstwirksamkeit
Trotz meiner anfänglichen Abneigung begann ich irgendwann, den Satz aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Nicht als Angriff, sondern als Einladung – allerdings auf eine Weise, die tiefer geht, als sie meist gemeint ist.
Ich begann zu verstehen, dass es nicht darum geht, das Opfersein zu leugnen, sondern darum, die eigene Wirksamkeit wiederzuentdecken.
Selbstwirksamkeit bedeutet nicht, dass man nie Opfer war. Es bedeutet, dass man langsam beginnt, neue Erfahrungen zu machen, die zeigen: Ich kann Einfluss nehmen. Ich habe Möglichkeiten. Ich bin mehr als das, was mir passiert ist.
Dieser Wandel braucht Zeit, Mitgefühl und Wiederholung.
Er entsteht nicht durch eine Entscheidung, sondern durch neue, korrigierende Erfahrungen – durch Wissen, Beziehung, Achtsamkeit, durch den Moment, in dem der Körper sich sicher genug fühlt, um etwas anderes als Abwehr zuzulassen.
Wann der Begriff „Opferrolle“ dennoch sinnvoll sein kann
In bestimmten Kontexten – etwa bei stark narzisstischen Mustern, in denen Menschen sich dauerhaft als Opfer darstellen, um Verantwortung zu vermeiden oder andere zu manipulieren – kann der Begriff hilfreich sein.
Doch das ist eine völlig andere Dynamik als die Verarbeitung realer Traumata.
Bei traumatisierten Menschen ist die sogenannte „Opferrolle“ kein bewusst gewählter Zustand, sondern eine Überlebenshaltung. Sie war einst notwendig. Und sie verändert sich erst, wenn sich das Nervensystem sicher genug fühlt, neue Erfahrungen zuzulassen.
Ein liebevollerer Blick
Vielleicht darfst du es heute so sehen: Ich war Opfer – und das war real.
Aber ich bin kein Opfer geblieben und ich darf Schritt für Schritt lernen, mich wieder oder zum ersten Mal, wirksam zu erleben.
Selbstwirksamkeit ist kein Kampf gegen das Opfersein.
Sie ist eine behutsame Bewegung hin zu sich selbst.
Sie entsteht dort, wo Mitgefühl den Platz der Scham einnimmt, wo Sicherheit entsteht und Vertrauen wachsen darf.
Vielleicht wäre das die liebevollere Form dieses Satzes:
Nicht „Geh raus aus deiner Opferrolle.“
Sondern: „Erinnere dich an deine Wirksamkeit.“
Deine Thea 🙏🌱
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